Der Hauch des Anderen

Bewegung. Bewegung ist der Mensch. Jeder Mensch bewegt sich auf eine andere Art und Weise. Der eine langsam oder schnell. Der Andere gemächlich oder konzentriert. Man entwickelt Eigenheiten der Bewegung, die ein bisschen eines jeden Charakterzug widerspiegeln.

Nur wenige vermögen, auch nach jahrelanger harter und zielstrebiger Arbeit, eine solche Körperbeherrschung zu erlangen, wie wir sie an den Tänzerinnen und Tänzern der von Martin Schläpfer geschaffenen Choreografie zum „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms im Duisburger Stadttheater bewundern durften.

Der Abend des 23.10.2012 wurde für uns, die Teilnehmer der „Initiative Kulturkompetenz“ am Gymnasium Mariengarden in Borken-Burlo, zu einer Reise, die die Fantasie herausforderte; denn die Tänzer entführten das Publikum in eine dem Alltag entrückte Sphäre, und der dafür Empfängliche konnte nicht umhin, für eineinhalb Stunde in eine Art Trance zu versinken und einzutauchen in eine Welt der etwas anderen Art. Ja, es war anders. Liebhaber des klassischen Ballettes mussten gehörig umdenken. Jedoch konnte selbst demjenigen die Schönheit des Ausdruckes und die Präzision der Tänzer und Tänzerinnen nicht entgehen, für den Ballett ohne Tutu und Spitzenschuh bislang nicht vorstellbar war. Es gab auch keine Handlung. In Wellen der Bewegung spiegelte sich das Verlangen des Menschen nach einer Stütze in der Welt und der sehnliche Wunsch nach Trost angesichts von Verlusterfahrungen, mit denen irgendwann jedermann konfrontiert wird.  Ist die Trauer über den Verlust eines Nahestehenden überhaupt zu trennen von der Trauer intimer Gewissheit, dem eigenen Tod als einem Moment absoluter Einsamkeit letztendlich nicht entweichen zu können? Und damit kommt das Bedürfnis nach einem Wink Gottes, dass dieser Tod nicht das Ende bedeutet, auf den Plan und hier in Bewegung, so dass dem Tanzraum ein Hauch des Übersinnlichen, Transzendenten eignet; die mal weißen, mal blauen Lichteffekte und die förmlich zerfließenden Formationen der Tänzer ziehen den hörenden Betrachter in ihren Bann. Die asynchronen und teilweise eckigen Bewegungen lassen innermenschliche Vorgänge erahnen, so dass mitunter der Blick in das tiefste (eigene) Seelenleben eröffnet wird, und dann mochte es geschehen, sich seiner Traurigkeit über die Zerbrechlichkeit eines jeden bewusst zu werden. Fast wie ein Wassertropfen, der langsam fällt und dann in Zeitlupe auf dem Asphalt zerspringt. So wirkte die  Szenerie, als an manchen Stellen die Darsteller auf den Bühnenboden sanken. Doch sie standen wieder und wieder auf – mit einer atemberaubenden Anmut und Leichtigkeit. Ebenso packend und äußerst genial war der Teil der Choreographie, in dem eine Tänzerin zunächst solo und dann im Pas de Deux auf nur einem Spitzenschuh tanzte, während der andere Fuß unmittelbar mit dem Boden in Berührung kam. Bis zu diesem Moment schien die Bodenhaftung sämtlicher Tänzerfüße alternativlos.  Die sich plötzlich präsentierende Asymmetrie, die Vertikalspannung auf der einen und das der Schwerkraft Anheimgegebene, Bodenständige auf der anderen Seite in ein und derselben Figur, versinnbildlichte  das Schwellendasein des Menschen: seine irdischen Fesseln und sein Streben zu Gott („Tod, wo ist dein Stachel?“).

Die Aufführung mündete in die die immer nur vorläufig Überlebenden tröstende Vorstellung, die Toten „ruhen von ihrer Arbeit“. Und als die Tänzer, ihre Bewegungen endgültig einstellend, auf dem Boden verharrten, war der Zauber dieses wunderbaren Augenblicks noch lange nicht verflogen und keiner der Zuschauer und Zuhörer, die an diesem Abend in den Genuss eines Gesamtkunstwerks gekommen waren, schien gewillt, in die Realität zurückzukehren.

Ohne die wunderbaren Stimmen der Solisten und die klangliche Wirkung des Orchesters wäre ein solch positiver Gesamteindruck nicht möglich gewesen. Hinter dem entrückenden Potential der  Brahmsschen Chöre des Requiems blieb dessen Verwirklichung durch den Chor der Deutschen Oper am Rhein manchmal ein wenig zurück, was an seiner hintergründigen Positionierung und entsprechender Entfernung zum Dirigenten gelegen haben mag. Hier eine bessere Lösung zu finden, wäre allerdings eines Preises wert, so dass die Kritik in diesem Punkt fast anmaßend erscheint und schon gar nicht die Großartigkeit der künstlerischen Gesamtleistung zu schmälern vermag, vor der wir uns verneigen und für die wir uns nur bedanken können. Das Ballett zum Requiem wird in dieser Spielzeit noch einige Male sowohl in der Deutschen Oper am Rhein als auch im Duisburger Stadttheater aufgeführt. Wir können es wärmstens empfehlen.

 

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